Krankheit und Behinderung - Die Frage nach dem Leid

Versuch einer Deutung und Bewältigung aus dem christlichen Glauben.

Die Frage nach dem Sinn und der Herkunft des Leides ist so alt, wie Menschen denken können, sie hält uns heute in Atem. Somit ist es auch verständlich, dass Philosophen und Theologen in ihrer Geschichte verschiedene Antworten auf die Erfahrungen des Leidens entwickelt haben. Zum Teil sind ihre Antworten heute unglaubwürdig geworden, zum Teil können sie aber auch heute noch zu denken geben.

Deutungsversuche

Das von Gott nur zugelassene Leid

Philosophie und Theologie haben in ihrem Bemühen, das Leid in der Welt zu erklären, eine Formel gefunden, die zugleich eine Entschuldigung Gottes liefert: Gott habe das Leid und das Böse nicht gewollt, er habe es nur zugelassen. So schon die Argumentation des hl. Augustinus, die für die Folgezeit in der Philosophie und Theologie bestimmend wurde und bis in unsere Tage hinein vertreten wird. Zu Recht wird heute aber die Frage gestellt, wie weit diese subtile Unterscheidung zwischen Zulassen und Wollen überhaupt überzeugen kann. Ist nicht auch jedes Zulassen eine wie auch immer zu verstehende Form des Wollens? Zu dieser Auffassung gelangt der Schweizer Reformator Johann Calvin (1509-1564), wenn er in seiner „Institutio“ (II, 23,8) fragt: „Aus welchem anderen Grund soll er (Gott) denn etwas zulassen, als weil er es will?“ Es scheint also, dass die Rede vom von Gott nur zugelassen Leid uns eher in eine Sackgasse führt, als dass sie uns weiterbringt.

Leid als Prüfung und Chance zur Bewährung

Eine weit verbreitete Deutung des Leids ist folgende: Gott lässt uns leiden, um uns zu prüfen, damit wir uns im Glauben bewähren und reifen. In diese Richtung weist beispielsweise das Weisheitsbuch, wenn es dort heißt: „Ein wenig nur werden sie gezüchtigt, doch sie empfangen große Wohltat. Denn Gott hat sie geprüft und fand sie seiner würdig. Wie Gold im Schmelzofen hat er sie erprobt und sie angenommen als ein vollgültiges Opfer“ (Weish. 3,5 f). Eine solche Deutung des Leids als Prüfung legen auch die Rahmenerzählungen des Buches Ijob und der Psalm 22 nahe. Und auch die Kirchenväter sehen im physischen Übel ein „Gymnasium unserer Seelen“ (Basilius). Es ist durchaus davon auszugehen, dass Menschen durch erfahrenes Leid im Glauben an Gott und auch persönlich gereift sind und sich dadurch auch besser in Not und Leid des Mitmenschen hineinversetzen können. Aber aus dieser persönlichen Erfahrung sollte man keine allgemeingültige Theorie ableiten. Bedurften die Menschen des Infernos von Auschwitz und Dachau, um im Glauben geprüft und geläutert zu werden? So ist es auch nicht verwunderlich, dass der französische Schriftsteller Albert Camus (1923-1960) im Leiden unschuldiger Kinder keinen Sinn erblicken konnte und sich weigerte, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.

Leid als Erziehungsmittel der Liebe Gottes

Verwandt mit der vorgenannten Leid-Erklärung ist jene, nach der Leid als Erziehungsmittel der Liebe Gottes verstanden wird. Im Titusbrief 2,11 ff. ist die Rede von der „heilsamen Gnade Gottes“, die uns „in Zucht nimmt“, und im Hebräerbrief 12,4 ff. ist von der Züchtigung aus Liebe die Rede. Heute noch kommt diese Deutung vielen Seelsorgern schnell über die Lippen. Auch hier wird man sagen können, dass das Leid durchaus ein Weg sein kann, durch den Gott tiefer zu einem Menschen kommt; man sollte daraus allerdings  keine allgemein gültige Wahrheit ableiten.

Leid als Strafe für die Sünde

Vor allem im Alten Testament erscheint das Lied als Strafe für die Sünde. So heißt es im Buch der Sprüche 12,21: „Kein Unheil trifft den Gerechten, doch die Frevler erdrückt das Unglück.“ Das Alte Testament sieht auch einen deutlichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde. Die Krankheit hat als Folge der Sünde Eingang in die Welt gefunden (Gen 3,16-19). Sie gilt als Fluch Gottes und führt zur Aussonderung aus der Kult- und Volksgemeinschaft. Diese Kausalkette von Ursache und Wirkung, von Tun und Ergehen mag es zwar im täglichen Leben geben, z.B. beim leichtfertigen Umgang mit Medikamenten und Alkohol oder bei vermeidbaren Unfällen, und wir sollten alles daransetzen, solche Fälle zu verhindern. Aber es ist bei weitem nicht jedes Leiden auf diese Weise zu erklären. Und erst recht kann man, was die Wirkung und das Ergehen betrifft, nicht von Strafe oder gar Strafe Gottes reden. Bedeutet der Satz in Gen 8,21: „Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen“ nicht Gottes Verzicht auf Strafe? Es ist darum folgerichtig, dass Menschen wie Ijob und eine Reihe von Psalmendichtern den Zusammenhang von Schuld und Strafe in Frage stellen.

Der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang wird vollends absurd im Hinblick auf das physische Leiden unschuldiger Kinder, weshalb Camus und Dostojewski in seinen „Brüder Karamasow“ dagegen protestieren. Umgekehrt ist Gesundheit noch lange kein Indiz für Wohlverhalten gegenüber Gott und den Menschen. Wer das Leiden als unmittelbare Folge der Sünde versteht, die gesühnt werden muss, der weckt den Verdacht, dass Gott grausam ist.

Jesus selbst hat das Denkschema von Tun und Ergehen im Sinne von Schuld und Strafe demaskiert, indem er im Kontext einer Blindenheilung die Jüngerfrage nach dem Schuldigen zurückweist: „Weder er (der Blinde) noch seine Eltern haben gesündigt“(Joh 9,3). Das Schicksal des Mannes – so die Auskunft Jesu – verweist nicht auf schuldhafte Aspekte seines Lebens. Die gleiche entschiedene Ablehnung eines Zusammenhangs von Sünde und Strafe finden wir in Lk 13,1 ff. im Blick auf das Blutbad des Pilatus und im Blick auf den eingestürzten Turm von Silona aus dem Munde Jesu. Spätestens diese neutestamentliche Aussagen und die Botschaft Jesu von der Liebe des Vaters müssten uns dazu veranlassen, einen solche Deutung – Leid als Strafe für die Sünde – aus unserer Theologie zu streichen.

Leid als Nebenprodukt der Evolution

Im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie, wie sie vor allem von Teilhard de Chardin vorgetragen wurde, erscheint das Leid als „unvermeidliches Nebenprodukt“ der Evolution. Es ist ihre „unvermeidliche Kehrseite“, „eine von der Schöpfung nicht zu trennende Qual“. Der Evolutionsprozess muss „mit einem gewissen Anteil von Abfällen bezahlt werden.“ Auch dieses evolutionistische Erklärungsmodell muss sich eine Reihe von Fragen gefallen lassen. Wenn die Evolution auf menschliche Freiheit ausgerichtet ist, dann drängen sich angesichts des Nichtgelungenen, des Zweckwidrigen und der Trümmer der Evolution die Fragen auf, ob hier die menschliche Freiheit nicht doch mit einem zu hohen Preis erkauft worden ist und ob es nicht weniger schmerzhafte Wege zur Freiheit gegeben hätte als diesen quälenden und zuweilen grausamen Umweg. Wird hier nicht das Leiden des Einzelnen, indem es in die evolutionäre Entwicklung eingeordnet wird, einfachhin nivelliert, ja sogar aufgehoben? Werden hier nicht die unerträglichen Schmerzen Einzelner  zur Bagatelle erklärt.

Leid als Preis der Freiheit

Eine klassische, neuerdings wieder aufgegriffene Deutung sieht im Leid den Preis für die dem Menschen von Gott eingeräumte Freiheit. Wenn Gott ein freies Geschöpf schafft, dann ist damit notwendig die Möglichkeit des Scheiterns dieses Geschöpfes verbunden. Die Liebe ermöglichende Freiheit und das Leiden hängen also so zusammen, dass Gott das vom Menschen verursachte Leid nicht verhindert, auch wenn er es eigentlich nicht will.

Auch hier lässt sich wiederum die Frage stellen, ob man sich nicht auch eine andere Freiheit vorstellen könnte, die Gott dem Menschen verliehen hätte, ohne dass diese zum Urheber so viel unsäglichen Leids geworden wäre. Eine Frage übrigens, die kein geringerer als Thomas von Aquin ebenfalls schon aufgeworfen hat.

Bewältigungsversuche

Die von Philosophie und Theologie erarbeiteten Deutungsmodelle – dies hat die bisherige Darstellung ergeben – hinterlassen eine gewisse Ratlosigkeit. Keines der genannten Modelle konnte eine allseits befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Leid geben. Keiner der Erklärungsversuche konnte Licht in das Dunkel des Leidens bringen. Das Leid rational erklären und ihm einen letzten Sinn geben zu wollen, scheint nicht möglich. Die Fragen, warum der gute Gott uns leiden lässt und wieweit Gott für das Leid mitverantwortlich ist, bleiben ungeklärt. Die Unbegreiflichkeit des Leids verweist uns an die Unbegreiflichkeit Gottes. Leiden kann also nicht theoretisch verstanden, wohl aber aus dem Glauben heraus vertrauend bestanden werden: Wo wir unser Leid zu Gott bringen, wird es nicht erklärlicher, aber auf jeden Fall erträglicher.

Die Klage

Die Klage ist die Sprache des Leidens, genauer die Sprache des Leidenden. Sie stimmt den Menschen ernst und gibt seinen Krisen eine Stimme. Die Klage ist eine eigene Gebetsgattung. Rund zwei Drittel der Psalmen sind Klagepsalmen. Fast alle Klagepsalmen zeigen uns, dass der Beter gewandelt aus der Klage hervorgeht. Er hat einen Zugang gefunden zum lebendigen Gott. Dabei geschieht diese Wandlung nicht etwa dadurch, dass der Beter sein Leid, seine Emotionen und Affekte beiseite schiebt, beruhigt oder zum Schweigen bringt. Im Gegenteil: Sie werden zugelassen, artikuliert, verstärkt und gerade so bewältigt. Auch Jesus hat am Kreuz „mit lauten Schreien und unter Tränen“ gebetet, indem er in die Klagetexte des 22. Psalms einstimmte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Die biblischen Vorbilder sollten uns ermutigen, klagend vor Gott unsere Schmerzen und Leiden zu bringen und an ihn unsere „Warum-Frage“ zu richten. Das Klagegebet als Sprache des Leidens ist eine legitime und von Jesus selbst gewählte Form, vor Gott zu treten. Es ist Ausdruck des großen Vertrauens, dass Gott uns in unserem Leid nicht vergisst.

Gott leidet mit

Obwohl das Leid eine Zumutung für den christlichen Glauben ist, kann und muss dieser Glaube angesichts des Leids die Zuversicht der Nähe Gottes aushalten. Der Christ kann im Glauben darauf vertrauen, dass die Nähe Gottes durch das Leid nicht aufgehoben ist – es verdeutlicht nur, dass Gottes Liebe rätselhaft ist und andere, uns ungewohnte Maßstäbe anlegt. Die christliche Hoffnung sagt dem Glaubenden, dass am Ende Gott auch hier den „Sinn“ erkennen lassen wird – wobei der Christ jetzt aber nicht weiß und nicht wissen kann, wie dieser Sinn aussehen wird. Schließlich wird der Christ sich auch an das Kreuz Jesu wenden – jedoch nicht, um sich damit einfachhin zu „trösten“. Im Gegenteil: Wenn Gott sogar seinen Sohn und mit ihm die Sache seiner Herrschaft in der Welt am Kreuz scheitern lassen konnte, dann gibt es kein Leid auf der Welt, das uns von Gott trennen könnte. Als Katharina von Siena (+1380) einst aufschrie: „Mein Gott, so warst du, als mein Herz in Todesschatten war?“ hörte sie die Antwort: „Meine Tochter, hast du es nicht gespürt? Ich war in deinem Herzen.“ Wer in seinem Leid nach Gott schreit, der stimmt bewusst oder unbewusst in den Todesschrei Jesu Christi ein: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer dies erkennt, der spürt sofort, dass Gott nicht jenes unerforschliche Gegenüber im Himmel ist, sondern in einem sehr persönlichen Sinne der menschliche Christus, der mit einem schreit, und der einfühlende Geist, der in ihm ruft und für ihn rufen wird, wenn er selbst verstummt. Das Kreuz Jesu Christi bzw. der Gekreuzigte ist das zusammenfassende Symbol für den mitleidenden und „gekreuzigten Gott“, der in Jesus Christus all unser Leid auf sich genommen und in der Auferstehung überwunden hat.

Solidarisches Mitleiden des Menschen

Wir alle kennen den Satz in Todesanzeigen: „Von Beileidsbekundungen bitten wir Abstand zu nehmen“. Mit diesem Satz drücken Trauernde aus, dass sie sich vor den floskelhaften Trostworten fürchten, die angesichts der harten Sprache des Leids zu billig wirken. Und wir müssen vorsichtig sein, dass wir uns im Gespräch mit dem Leidenden in seine Leidensgeschichte nicht zu schnell einmischen und sie zu deuten versuchen. Das Beispiel der Freude Ijobs führt uns hier auf eine andere Spur: „Die drei Freunde Ijobs hörten von all dem Unglück, das über ihn gekommen war, und ein jeder kam von seiner Heimat, Eliphas aus Teman, Bildad aus Schuach und Zophar aus Naama. Sie verabredeten untereinander hinzugehen, um ihre Teilnahme zu bezeigen und ihn zu trösten. Da sie von ferne ihre Augen erhoben, erkannten sie ihn nicht. Sie erhoben ihre Stimme und begannen zu weinen, zerrissen alle ihr Übergewand und streuten Asche auf ihr Haupt. Sieben Tage und sieben Nächte saßen sie neben ihm auf der Erde, und keiner sprach ein Wort zu ihm. Denn sie sahen, dass sein Schmerz übergroß war“ (Ijob 2,11-13). Ijobs Freunde taten in dieser Situation das einzig Richtige: Eine ganze Woche lang saßen sie stumm bei ihm. Wo Worte versagen und eher Schweigen geboten ist, kann die liebende Zuwendung zu dem Leidenden seine Starre lösen und ihn ein wenig aufrichten. Der Christ wird, soweit ihm das möglich ist, mitleiden. Er wird sich mit dem Leidenden solidarisch machen und diese Solidarität nicht bei einem Gefühl belassen, sondern in helfende und lindernde Tat verwandeln.

Ausblick

Leid lässt sich nicht theoretisch verstehen, sondern nur praktisch bestehen. Das Alte Testament verweist uns hier auf Ijob. Gott bleibt dem von übergroßem Leid geschlagenen Ijob unbegreiflich. Aber dennoch bringt Ijob diesem unbegreiflichen Gott bei aller Klage statt Verzweiflung und Resignation ein unerschütterliches Vertrauen entgegen. Das Neue Testament verweist uns auf den Schmerzensmann von Nazaret. Das Kreuz Jesu zeigt uns, dass man von allen Menschen verlassen werden kann, dass man sogar des Menschseins verlustig und selbst von Gott vermeintlich aufgegeben werden kann. Für sich betrachtet, ist das Kreuz ein Fiasko. Nur durch die Auferweckung Jesu kommt Sinn in dieses äußerlich sinnlose, gottverlassene Sterben hinein. Leiden und Hoffnung gehören für die Schrift unlösbar zusammen: Hoffnung auf einen Gott, der sich als Gott der rettenden Liebe erweisen und durchsetzen wird. Ob dies eine lebbare Antwort ist, die das Leid nicht vergessen, aber verarbeiten hilft, muss jeder und jede für sich selbst entscheiden.